Kinder stehen in diesem Jahr im Mittelpunkt des Rationaltheaterprogramms. In der Produktion LOST CHILDREN beschäftigen wir uns mit Kriegstraumata, Flucht, Missbrauch und Versklavung von Minderjährigen. Neben einer ganzjährigen Ausstellung, finden in dieser Reihe Lesungen, Konzerte, Theater- und Filmvorführungen statt.
Zu Beginn von LOST CHILDREN stellen wir die Fotografien von Gerti Deutsch „Ihr erster Tag in England“ den Arbeiten von Mario Steigerwald „Ihr erster Tag in Deutschland“ gegenüber. Die Aufnahmen von Gerti Deutsch entstanden 1938 für die neugegründete Picture Post und zeigen jüdische Kinder aus Deutschland, die mit einem Kindertransport nach England entkommen konnten. Die Arbeiten von Mario Steigerwald dokumentieren die Ankunft von unbegleiteten syrischen, afghanischen und äthiopischen Flüchtlingskindern 2015 in München. In der Ausstellung möchten wir zeigen, dass die Flucht Minderjähriger vor Gewalt, Missbrauch und Tod kein singuläres Ereignis ist, sondern eine grausame Konstante der Menschheitsgeschichte – weltweit.
GERTI DEUTSCH
Der Lebensweg von Gerti Deutsch ist ein typisches Emigrantenschicksal des vergangenen Jahrhunderts: 1908 in einer großbürgerlichen Familie geboren und in der Wiener Innenstadt zu Hause, absolvierte sie 1933/1934 eine Ausbildung zur Fotografin an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien. Sie blieb resistent gegenüber der neuen heroischen Bildästhetik, wie sie während des Nationalsozialismus propagiert wurde; stattdessen zeichnen sich ihre Fotos durch eine kontrastreiche Lichtführung mit erschreckender Unmittelbarkeit und drastischem Realismus aus. 1936, als der Austrofaschismus das liberale Leben bereits erheblich eingeschränkt hatte, emigrierte sie nach England und fotografierte im Londoner Exil als eine der wenigen Frauen für die liberale antifaschistische Illustrierte Picture Post.
KINDERTRANSPORTE – DIE RETTUNG DER ZEHNTAUSEND
Unmittelbar nach der internationalen Berichterstattung über die Novemberpogrome von 1938 entschieden sich mehrere Länder, ihre strikten Einreisebestimmungen für jüdische Flüchtende zu lockern. Allen voran Großbritannien, aber auch die Schweiz, Holland, Belgien, Frankreich und Schweden erklärten sich bereit, Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre aus dem Deutschen Reich aufzunehmen. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs beendete die großangelegte Hilfsaktion. Am 2. September 1939 erreichte der letzte offizielle Kindertransport England. 10.000 Kinder entkamen dem Holocaust und überlebten – oftmals als einzige ihrer Familien.
MARIO STEIGERWALD
Aufgewachsen in Uruguay, schloss er sich nach dem Militärputsch 1973 der Widerstandsbewegung der Tupamaros an und war damit exzessiven Repressionsmaßnahmen ausgesetzt. Der 17-jährige Schüler flüchtete, nachdem ihm bei einem Verhör die Finger seiner rechten Hand gebrochen wurden, ins europäische Exil. In Belgien studierte er an der ècole Supérieure Artistique „Le 75“ Grafik, Kunst und Fotografie, danach arbeitete er als freischaffender Fotograf und Galerist in Brüssel, Paris und München. Mit seinen sensiblen Menschenstudien fernab aller Sozialromantik machte er sich als Streetphotographer schnell einen Namen. Obdachlose, Schlafende, Badende, aber auch Schauspieler und Tänzer im Rampenlicht erscheinen aus seiner subjektiven Sicht in einem emotionalen, fast intimen Kontext. 2015 fotografierte Mario Steigerwald die am Hauptbahnhof in München ankommenden Flüchtlinge und folgte ihnen mit der Kamera über mehrere Tage und Nächte durch die Stadt.
WILLKOMMENSKULTUR
FAST DIE DIE HÄLFTE ALLER FLÜCHTLINGE WELTWEIT SIND KINDER
2015 war das Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise, Teddybären flogen Fremden zu, der Begriff „Willkommenskultur“ wurde weltberühmt: ein Gefühlsausbruch, eine Ausnahmesituation. Schon ein Jahr später war der Rausch vorbei.
Die Ergebnisse der bundesweiten BumF*-Umfrage 2020 unter Fachkräften zur Situation junger Geflüchteter im Bundesgebiet verweisen auf ein gesellschaftliches Klima, das junge Geflüchtete kriminalisiert und auf zahlreichen Ebenen mehrfachdiskriminiert. Sie verdeutlichen in alarmierendem Ausmaß, dass jugendliche Geflüchtete massiv unter Gewalterfahrungen leiden und in kontinuierlich ansteigendem Ausmaß von Alltags- und institutionellem Rassismus betroffen sind. Die Umfrage dokumentiert einen deutlichen Anstieg an (auch sexualisierten) Gewalterfahrungen und Menschenhandel. Es mangelt an einer ausdifferenzierten Versorgungsstruktur für Mädchen, junge Frauen, junge Eltern sowie für junge Geflüchtete mit körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung. Darüber hinaus fehlen bedarfsgerechte Schutz- und Lebensräume für intersexuelle, transsexuelle und diverse junge Menschen.
*Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V
Beginn: 18 Uhr – ab 19 Uhr Gespräch mit Mario Steigerwald und Dominik Roeske
PROGRAMM LOST CHILDREN