Liebster Vater,
Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte…
Der Brief an den Vater ist ein 1919 verfasster, niemals abgeschickter Brief Franz Kafkas an seinen Vater. Er bietet vor allem die Schilderung einer innerpsychischen Dynamik: eine der genauesten und eindringlichsten Analysen patriarchaler Machtverhältnisse und ihrer seelischen Verheerungen. Rückschlüsse auf die soziale und atmosphärische Wirklichkeit sind jedoch nur mit Vorsicht zu ziehen: So ist die Vorstellung, das Familienleben der Kafkas sei von latenter Gewalt und von finsterem Schweigen geprägt gewesen, völlig verfehlt. Auch unter diesem Vorbehalt jedoch bleibt Kafkas Brief das wichtigste autobiografische Zeugnis, das wir von ihm besitzen.
Zum 100. Todestag von Franz Kafka liest Ulrich Günther.
Eine Veranstaltung der Freunde des Rationaltheater e.V. mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München.